Shyamal Balaji Lohar lebt in einem kleinen Dorf in Osmanabad, Zentralindien. Die Wellblechhütte, in der das 17-jährige Mädchen mit ihrer Mutter Kamal und ihrer Schwester wohnt, ist spärlich eingerichtet. Die Armut in jeder Ecke sichtbar.

Glücklich scheint das 17-jährige Mädchen zu sein. Aufrecht sitzt sie lächelnd auf den kühlen Steinplatten, schneidet Kartoffeln für das Abendessen. Ihre Mutter sitzt neben ihr; stolz und etwas schüchtern lächelt sie ihre Tochter an. Die beiden vereint; es hätte nicht viel gefehlt, und es wäre anders gekommen.

Shyamal Balaji Lohand und ihre Mutzer Kamal sind vereint. Es hätte nicht viel gefehlt und es wäre anders gekommen.

Ich war traurig und wütend – aber auch völlig hilflos, erinnert sich Shyamal beim Erzählen ihrer Geschichte.

Heirat aus Not

Shyamal kam als zweite Tochter auf die Welt. Weil der Vater aber unbedingt einen Sohn wollte, verliess er seine Frau. Diese kämpfte sich durchs Leben, mit Gelegenheitsarbeiten, als Taglöhnerin. Immer wieder wurde sie von Krankheiten geschwächt. Als alleinerziehende Frau fiel es ihr schwer, ihre zwei Töchter zu schützen. Bereits als Minderjährige wurde die Ältere verheiratet. Der Mann: gewalttätig. Sie floh zu ihrer Mutter und kämpft heute um das Sorgerecht ihrer Tochter.

Als Shyamal gerade 16 geworden war, brachte ihre Tante Gäste in die Wellblechhütte. Brautschau war angesagt. «Wenn ein Mann heiraten will, gehen er und seine Familie zum Haus des Mädchens, um zu sehen, ob das Mädchen ‹gut genug› für die Ehe ist», erzählt Shyamal. «Ich war traurig und wütend – aber auch völlig hilflos», erinnert sich Shyamal. Ihre Mutter, krank und kraftlos, willigte in die Heirat ein.

Hunger ist weiblich

Frauen sind besonders häufig von Hunger, Armut und Gewalt betroffen. Mit einer Spende stärken Sie die Frauen in unseren Projekten in Afrika, Asien und Lateinamerika.

Trauriger Spitzenplatz

In keinem anderen Land der Welt werden so viele Mädchen vor dem 18. Lebensjahr verheiratet wie in Indien. Über 220 Millionen Mädchen sollen davon betroffen sein, so Schätzungen der Unicef. Dabei sind 100 Millionen der Kinder unter 15 Jahre alt. Und dies, obwohl Kinderehen in Indien seit 1978 gesetzlich verboten sind, ein Gesetz, das 2006 mit neuen Bestimmungen erneut bestätigt.
Armut ist der Nährboden für diese Eheschliessungen. «Es handelt sich um eine verborgene Pandemie, die negative Auswirkungen auf die gesamte Generation hat!», erklärt Sneha Giridhari, Gender- und Programmverantwortliche im Büro Indien.

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Breites Netzwerk

Shyamal Balaji Lohar nahm ihr Schicksal indes in die eigenen Hände. Sie sprach mit der Leiterin der örtlichen Mädchengruppe. Diese suchte das Gespräch mit Shyamals Mutter. Sie machte auch auf die Illegalität der Handlung aufmerksam. Die Mutter gab dem Druck schliesslich nach und lehnte die Heirat ihrer Tochter ab.

Shyamal ist eines der Mädchen, die ­SWISSAID und ihre Partnerorganisationen in den letzten zwei Jahren vor der Kinderheirat schützen konnten. Dank der Sensibilisierungsmassnahmen konnten im vergangenen Jahr 526 gefährdete Mädchen identifiziert und 187 Mädchen vor einer drohenden Kinderheirat geschützt werden. ­

«Ein wichtiger Pfeiler unserer Arbeit sind sogenannte ‹Peer Educators›», erzählt Sneha Giridhari. In über 100 Dörfern hat ­SWISSAID gemeinsam mit ihren Partnerorganisationen interessierte und sensibilisierte Jugendliche ausgebildet, mit Fachpersonen vernetzt und Jugendzentren gebildet. «Die Gruppenleiterinnen in den Dörfern sind nahe an den Mädchen und Opfern dran. Oft sind sie wie Freundinnen. Sich bei ihnen zu melden, ist für Betroffene sehr niederschwellig möglich», betont unsere Expertin.

Wichtige Bildung

Einmal im Monat schulen ausgebildete Frauen die Jugendlichen. Dort werden Fragen thematisiert, zum Beispiel: Was ist männlich? Was ist weiblich? Was bedeutet Gewalt für das Opfer? Was für den Täter? Welche Folgen hat eine Kinderheirat für die Betroffenen? Mit Liedern, Diskussionen, Plakaten und ­Rollenspielen lernen die Jugendlichen wichtige Meilensteine für eine gleichberechtigte Gesellschaft kennen. In den Zentren können die Mädchen und Buben auch Bücher ausleihen oder vor Ort lesen. Auch verschiedene Bildungsangebote wie Computer- oder Nähkurse unterstützen die Jugendlichen auf ihrem Weg in die Selbstständigkeit.

Mobile Rechtsberatungsstellen geben Betroffenen Antworten auf juristische Fragen. Und Ärztinnen und ausgebildete Psychologinnen stützen Betroffene auf dem Weg zur Genesung. «Die Hilfe umfasst sehr viele verschiedene Aspekte und hat damit eine sehr nachhaltige Wirkung.»

Immer wieder sensibilisiert SWISSAID auch die staatlichen Akteure. Ziel ist, dass Kinderheirat und Gewalt an Frauen in den Institutionen ernst genommen werden.

Das Leben von Shyamal hat sich dank der Arbeit von SWISSAID bereits positiv verändert. In der dörflichen Mädchengruppe hat das Mädchen Gleichgesinnte kennengelernt und Selbstvertrauen getankt. Sie geht zur Schule und will aus ihrem Leben etwas machen: «Ich möchte mich zur Krankenpflegerin ausbilden lassen. Sodass ich für mich, meine Mutter und meine Schwester sorgen kann!»

 

Dieses Projekt wird von der Europäischen Union mitfinanziert.

Pranchi Namdev Gore, ein junges Mädchen, das an Jugendgruppen teilgenommen hat. Auf diese Weise kann eine ganze Generation von einer Zukunft träumen, die ihr gehört. Und die patriarchalischen Normen, die in zu vielen Regionen noch immer gelten, auf den Kopf stellen.